Echte Vielfalt

17. April 2023

Der Begriff „Mutter“ und die heiße Luft in einer wichtigen Debatte

Die Debatte um die Umschiffung des Begriffs „Mutter“, die die Tagesschau mit ihrem Artikel zum „Sonderurlaub nach Geburt des Kindes“ losgetreten hatte, war in der breiten Öffentlichkeit so schnell wieder vorbei, wie sie gekommen war.

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Einen guten Überblick über die Ereignisse liefert die Rheinische Post. In der Debatte ging es um einen Artikel (bereits korrigierte Version) der Tagesschau, die über einen Gesetzesentwurf von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) berichtet hatte. Der Gesetzesentwurf sieht vor, nicht nur Müttern, sondern auch deren Partner*innen zwei Wochen Sonderurlaub nach der Geburt zu ermöglichen. Allerdings hatte die Tagesschau statt „Mutter“ den Begriff „entbindende Person“ verwendet. Eine Formulierung, die der Bild sauer aufstieß, und die daraufhin wissen wollte, wieso? Die Antwort der Tagesschau: sie wolle möglichst niemanden diskriminieren. Für die Bild macht dieser missglückte Versuch aus der Tagesschau „die selbst ernannte Sprachpolizei“, die den Begriff Mutter „verbieten“ wolle. Dabei liegt das Problem vor allem in der Wortwahl.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass Geschlecht (eine Fortpflanzungskategorie), Gender (eine gesellschaftliche Rolle) und Geschlechtsidentität (ein inneres Selbstverständnis) keine Synonyme darstellen. In einer offenen Kommunikation wird es daher notwendig abzuwägen, ob und wann das Geschlecht eine relevante Rolle spielt und wann seine Vermeidung angebracht ist. Dies erleichtert die Vermeidung von Geschlechtsstereotypen und stellt gleichzeitig sicher, dass geschlechtsspezifische Bedürfnisse und Probleme nicht übersehen werden. Das gilt besonders für Institutionen wie die Tagesschau. Aus diesem Grund ist kritisches Hinterfragen der Tagesschau durchaus legitim. Aber wo genau liegt nun das Problem?

Der nachfolgende Problemaufriss orientiert sich an einem Artikel von Frontiers in Global Women’s Health. Die vollständige Quelle befindet sich unterhalb dieses Artikels.

Die Entsexualisierung von Sprache in Bezug auf die weibliche Fortpflanzung hat zunächst das legitime Ziel, zugewandt und integrativ zu sein. Doch diese Zugewandtheit kann unbeabsichtigte Folgen haben. Zuallererst stehen wir vor dem Dilemma, dass jeder Versuch der Inklusion einer Gruppe gleichzeitig die Gefahr einer allgemeinen Verringerung von Inklusion beinhalten kann. So birgt eine Veränderung von alltäglichen Begriffen das Potenzial, dass junge Menschen, Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen oder geringer Bildung, Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Menschen, die nicht in ihrer Muttersprache angesprochen werden, Gefahr laufen, geschlechtsunspezifische Sprache misszuverstehen. Daneben sind medizinische Begriffe auch für Personen mit hohem Bildungsstand und der passenden Muttersprache nicht automatisch verständlich. Die Folgen sind Missverständnisse und Ungenauigkeiten, die wiederum zu Angst, aber auch zur Mangelversorgung führen können, wenn Menschen nicht verstehen, welche Hilfe und Rechte sie betreffen und welche nicht.

Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Problem der neutralen Sprache insbesondere in Bezug auf Mütter und Geburt ist, dass sich die alternativen Bezeichnungen für „Frauen“ und „Mütter“ auf Körperteile oder physiologische Prozesse beziehen und damit diese Individuen auf ihre biomechanischen Funktionen reduzieren. Dabei geht es nicht um die Frage einer Beleidigung, sondern gerade im Kontext von Schwangerschaft und Geburt und der Stellung der Frau gegenüber dem Mann ist Gewalt in dieser Lebensphase ein nicht zu ignorierendes Phänomen. Eine verbale Entmenschlichung könnte hierbei zu physischen Folgen führen.

Darüber hinaus birgt die Vermeidung des Begriffs „Mutter“ in seiner geschlechtsspezifischen Bedeutung die Gefahr, dass die Anerkennung und das Recht auf Schutz der Mutter-Kind-Beziehung geschmälert werden. Gerade für Säuglinge haben Mütter eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Diese ist umso essenzieller, wenn durch Katastrophen, Armut oder eine Frühgeburt, aber auch häusliche Gewalt etc. der Schutz besonders hohe Bedeutung erhält. Sprachliche Veränderungen haben hingegen das Potenzial, in dem Prozess die Anerkennung dessen zu untergraben, was Mütter für alle Säuglinge bedeuten.

Obwohl also die Kritik gegenüber der Tagesschau legitim ist, hat es die Bildzeitung mit ihrer populistischen Wortwahl geschafft, alle Seiten in eine verhärtete Abwehrhaltung zu drängen. Die Debatte um Sprache funktioniert aber nur, wenn es gelingt, ein Verständnis für Bedenken zu entwickeln. Ansonsten bleibt das Ganze eine Schlacht der Gefühligkeit, unter der am Schluss häufig diejenigen leiden, die ihre Bedürfnisse am schlechtesten artikulieren können. Diese Verantwortung tragen dabei vor allem diejenigen Personen und Institutionen mit der größten Reichweite. Das gilt sowohl für die großen Medienhäuser als auch für die verschiedenen (LSBTIQ*)-Institutionen und Vereine auf allen Seiten.

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Quelle:

Front Glob Womens Health. 2022; Effective Communication About Pregnancy, Birth, Lactation, Breastfeeding and Newborn Care: The Importance of Sexed Language. (3: 818856.) Published online 2022 Feb 7. doi: 10.3389/fgwh.2022.818856



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