Wer prägt eigentlich unsere Geschichtsbücher – und wer fehlt darin? Diese Fragen treiben die Berliner Autorin und Journalistin Morgane Llanque schon lange um. Für sie steckt die klassische Geschichtsschreibung voller blinder Flecken: Frauen, queere Personen, Menschen mit Behinderung oder nicht-westliche Kulturen werden bis heute zu oft an den Rand gedrängt. Ihr neues Buch „Vielfalt – Eine andere Geschichte der Menschheit“ will das ändern. Es ist eine Einladung, die Vergangenheit mit anderen Augen zu betrachten.
Morgane Llanque, Jahrgang 1994 und in Berlin geboren, ist studierte Historikerin, Politikwissenschaftlerin und Kulturjournalistin. Nach Stationen an der Katholischen Journalistenschule und ersten Veröffentlichungen in Medien wie Die Zeit, taz und dem Good Impact Magazin, arbeitet sie heute beim Institut für Auslandsbeziehungen.
Geschichte jenseits der Machtperspektive
Ihr Buch, das im November 2025 im Droemer Verlag erschienen ist, umfasst rund 300 Seiten und führt in acht Kapiteln durch verschiedene Epochen und Weltregionen. Llanques zentrale These: Die Menschheit war schon immer vielfältig – ethnisch, kulturell, geschlechtlich. Doch die überlieferte Geschichtsschreibung, meist von den Mächtigen geprägt, erzählte lange nur einen Ausschnitt dieser Realität.
Besonders deutlich wird das im Blick auf den sogenannten Westen. Llanque widerspricht der Vorstellung, die westlichen Gesellschaften seien historisch homogene Räume von Whiteness, Patriarchat und Heteronormativität gewesen. Dieser Mythos sei bequem, aber unhaltbar – und reiche bis in die Gegenwart, wo rechte und rückwärtsgewandte Bewegungen versuchen, gesellschaftliche Vielfalt zurückzudrängen.
Von der Steinzeit bis zur Globalisierung: Vielfalt ist älter als gedacht
Llanque beginnt ihre Reise in der Steinzeit – und räumt gleich mit einem weiteren beliebten Stereotyp auf. Die Frühgeschichte war keineswegs eine Welt männlicher Dominanz. Neue archäologische Funde deuten vielmehr auf gesellschaftliche Strukturen hin, in denen Frauen Macht hatten, Kriegerinnen existierten und Rollenbilder wesentlich flexibler waren als lange behauptet wurde. Auch Migration ist kein neuzeitliches Phänomen: Nach Llanques Darstellung zeigen aktuelle DNA-Analysen, dass anatolische Bevölkerungsgruppen bereits in der Frühgeschichte weitreichende Wanderungsbewegungen auslösten.
Über Antike und Mittelalter führt sie schließlich in das 18. und 19. Jahrhundert – und zeigt dort, wie selbstverständlich gender-nonkonforme Menschen in vielen Kulturen lebten. Globalisierung, so betont sie, ist ebenfalls kein modernes Konzept: Schon im Mittelalter vernetzten sich Gesellschaften über Kontinente hinweg, ohne dass dies zwangsläufig mit Kolonialismus verbunden war.
Menschen mit Behinderungen: sichtbar und doch unsichtbar
Ein großes Kapitel widmet Llanque Menschen mit Behinderungen, die in der klassischen Geschichtsschreibung oft nur als Randfiguren auftauchen – oder gar nicht. Dabei prägten sie in vielen Fällen politische Entwicklungen, kulturelle Traditionen oder militärische Geschichte. Von einem einäugigen Samurai über den buckligen Staatsmann Salisbury bis zur blinden Pianistin oder Lord Byron mit Klumpfuß: Llanque zeigt, wie vielfältig und prägend diese Biografien waren.
Gender-nonkonforme Geschichte: weltweit und seit Jahrhunderten
Ebenso ausführlich beleuchtet die Autorin Kulturen, in denen gender-nonkonforme Menschen seit jeher selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind. Sie erzählt von den neapolitanischen Femminielli, den Female Husbands aus der angloamerikanischen Geschichte, den Hijras in Südasien sowie den Fa’afafine und Fa’atame in Samoa. Immer wieder wird sichtbar: Genderdiversität ist kein modernes Phänomen, sondern historisch tief verankert – und oft erst durch koloniale oder westliche Normen verdrängt worden.
Ein populäres Buch mit Bildungsanspruch
Auch wenn Llanque nicht den Anspruch erhebt, ein vollständiges Geschichtswerk zu liefern, bietet ihr Buch eine kompakte, gut lesbare Gesamtschau bisher übersehener Kapitel der Menschheitsgeschichte. Kritisch ließe sich anmerken, dass gerade das Berlin-Kapitel etwas blass bleibt. Doch für ein breites Publikum, das „die Geschichte hinter der Geschichte“ entdecken möchte, ist es ein zugänglicher und inspirierender Einstieg.
Für die Geschichtswissenschaft wiederum könnte „Vielfalt“ ein Anstoß sein, stärker mit multiperspektivischen Methoden zu arbeiten – und die Menschheitsgeschichte als das zu begreifen, was sie immer war: ein Geflecht aus vielen Stimmen, Lebensformen und Identitäten.
