Mitte letzten Jahres trat Amazons ‚Inclusion Playbook‘ in Kraft. Darin legte der Konzern Richtlinien zum Beispiel zum Umgang mit Stereotypen fest, die bei einem Filmdreh von und für Amazon zu berücksichtigen sind. Seitdem ist über ein Jahr vergangen und die zunächst laut gewordene Kritik am Playbook scheint in den Hintergrund gerückt, wie aktuell die jüngsten Empörungen um die Netflix-Serie „Heartstopper“ zeigen.
Nach massivem Druck aus der Community sah sich der Schauspieler Kit Connor gezwungen, sich auch privat als bi zu outen, nachdem ihm bzw. der Serie ‚Queerbaiting‘ vorgeworfen wurde. Queerbaiting gilt als „eine Marketingtechnik für Fiction- und Entertainment-Formate, bei denen die Produzent*innen auf gleichgeschlechtliche Romanzen oder andere LGBTI-Darstellungen hinweisen, sie dann aber nicht darstellen.“ (queer.de) Connor erhielt die Vorwürfe, nachdem er Hand in Hand mit einer Schauspielerkollegin gesehen wurde: „Bei manchen Fans sorgte dies für Unverständnis, da Connor in ‚Heartstopper‘ einen bisexuellen Schüler spielte, […] und in Interviews von sich gab, dass er sich mit seiner Rolle identifizieren könne.“
Diese „Fans“ glaubten, einen Anspruch darauf zu haben, aufgrund einer Rolle über die sexuelle Orientierung eines Schauspielers zu urteilen. Genau dies missversteht jedoch auch Amazon: Im Inclusion Playbook stellt – neben Inklusion – Authentizität eine zentrale Maxime. Es gehe darum, Minderheiten auch in Bezug auf ihre „sexuelle Orientierung“ zu stärken, so der Konzern. Aber: Die Richtlinie regelt, wer vor und hinter der Kamera steht, indem sie Quoten für Geschlecht, Herkunft sowie sexuelle, politische oder religiöse Ausrichtungen setzt. Andreas Berner zitiert dazu in seiner ZEIT-Kolumne: „Es sollen nur noch Schauspieler engagiert werden, deren Identität (Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Behinderung) mit den Figuren, die sie spielen, übereinstimmt.“
Der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt mahnt, dass die hier betriebene Nebeneinanderstellungen von Identitäten durch „Authentizität“ eine Identitätspolitik erzeuge, wie sie auch bei den „Neuen Rechten“ zu finden sei. Hier gehe es nicht mehr um Schauspiel und Rollenübernahme, sondern dass jede*r einen/ihren Platz zugewiesen bekommt. Sowohl Schmitt als auch Berner zitieren in diesem Zusammenhang Diderot und sein „Paradox über den Schauspieler“ um 1770:
„Der Schauspieler ist nicht diese oder jene Person, er spielt sie nur und spielt sie so gut, dass Sie ihn mit ihr verwechseln“, […] „das vollständige Fehlen von Empfindsamkeit“ sei daher gerade „die Voraussetzung für erhabene Schauspieler“.
Die taz fragte im vergangenen Jahr, ob nun nicht geoutete Schauspieler*innen mehr oder weniger zu Outings gezwungen würden, um Jobs zu bekommen und bemerkte: „Ein Mörder muss nicht von einem Mörder gespielt werden. […] Und ein homosexueller Schauspieler kann eben auch die Rolle eines Heterosexuellen übernehmen.“ Ebenso hätte Connor, auch wenn er nicht bi wäre, die Rolle verkörpern können.
Amazons Anliegen, möglichst keine potenziellen Kund*innen zu verschrecken, ist offensichtlich. Dabei verlangt der Konzern allerdings nicht weniger als eine*n gläserne*n Arbeitnehmer*in, die*der alles über ihre*seine Herkunft und (sexuelle) Identität verrät, um anstellbar zu bleiben. Ob dabei ein Thema schauspielerisch gut umgesetzt wird oder nicht, sollte jedoch auch weiterhin eine Frage des Handwerks und nicht der sexuellen oder irgendeiner anderen Identität bleiben.